
1. Tag
Wir fahren an einem Dienstagmorgen im September von zu Hause mit dem Auto los, mit dem Ziel Brülisau im Kanton Appenzell, in der Schweiz. Vom westlichen Bodensee aus, ist das keine große Sache, in ungefähr eindreiviertel Stunden (südbadischer Zeitrechnung) ist das in der Regel gemütlich zu schaffen. Alles außer gemütliches Fahren macht in der Schweiz sowieso wenig Sinn, da die Bußgelder für zu schnelles Fahren drakonisch sind und locker die Kosten für unseren geplanten Wanderurlaub verdoppeln könnten. Außerdem haben wir es ja ohnehin nicht eilig, wir haben schließlich Urlaub. Umso mehr sind wir dann doch erstaunt darüber, als wir uns schon kurz hinter Frauenfeld auf der Autobahn, in stockendem Verkehr wiederfinden. Das kennen wir so gar nicht, wenn wir sonst ins Appenzell fahren. Aber klar, bisher war das immer sonntags frühmorgens, da gibt es natürlich keine LKWs und Berufspendler, wie heute. Bald löst sich der zähfließende Verkehr dann aber doch wieder in fließenden Verkehr auf und wir gleiten entspannt unserem Startpunkt entgegen.
In Brülisau parken, oder wie man in der Schweiz sagt, parkieren wir unser Auto an der Talstation der Seilbahn „Hoher Kasten“, die hinauf zum Gipfel des gleichnamigen Berges führt. Die Bahn wollen wir zwar nicht für den Aufstieg nutzen, den zugehörigen Parkplatz aber schon. Es ist an diesem Septembermorgen ganz schön frisch, wir ziehen unsere Wanderschuhe an, ich ziehe den Reißverschluss meines Anoraks bis ganz nach oben. Die benachbarte Kirchturmuhr schlägt neun Uhr, es kann, besser gesagt, WIR können losgehen.
Obwohl unsere geplante Tour alles andere als spektakulär ist und wir nicht etwa vorhaben mit Hundeschlitten Baffin Island zu durchqueren, spüren wir beide deutlich, dass wir aufgeregt sind. Eine Mischung aus Ungewissheit, wie es die nächsten Tage wohl laufen wird und der übermütigen Vorfreude auf ein paar hoffentlich schöne Tage in den Bergen. Bei Margit stand eine Übernachtung in unserem heutigen Etappenziel, dem Berggasthof Bollenwees, schon seit ihrem vierzehnten Lebensjahr auf der Wunschliste. Warum es dann doch so lange gedauert hat, bis es dazu kam, weiß niemand, am wenigsten sie selbst. Wenn man allerdings so viele Jahre Anlauf nimmt, ist klar, dass es mit einem gewissen Kribbeln verbunden ist, es heute endlich anzugehen.
Ein wenig sind wir auch nervös, wegen unserer neuen Rucksäcke. Wir haben genau das gemacht, wovon alle abraten würden. Vor einer mehrtägigen Tour in neues Equipment investiert, ohne vorherigen Testlauf. Aber es war einfach an der Zeit. Mein (großer) Rucksack war inzwischen fünfunddreißig! Jahre alt und definitiv aus dem Leim. Trotzdem war ich erstaunt, wie schwer es mir gefallen war, ihn nach dem Kauf des Neuen zu entsorgen. Da hingen einfach unzählige schöne Erinnerungen daran, aber zum Rucksack-Messi wollte ich auch nicht verkommen, also trennte ich mich schließlich doch schweren Herzens von dem alten Weggefährten, und, soviel kann ich vorwegnehmen, sollte es nicht bereuen.
Vom Parkplatz führt uns eine kleine geteerte Straße den Hang hoch in Richtung Hoher Kasten. Noch im Schatten, wir nähern uns von Nordwesten her, die Sonne steht noch nicht hoch genug am Himmel. Bald biegt ein schmaler Pfad durch Almwiesen von der Teerstraße ab, auf direktem Weg hinauf zum Berggasthaus Ruhesitz, das heute jedoch geschlossen hat. Eine Einkehr war hier sowieso nicht vorgesehen, wir sind ja noch nicht lange unterwegs. Von hier aus hat man einen ersten schönen Blick auf Brülisau, umgeben von saftigen grünen Wiesen und Hügeln, die schließlich steil in das Gebirge des Alpstein übergehen. Alles wirkt wie bei einer Modelleisenbahn-Landschaft. Eigentlich viel zu abwechslungsreich für den wenigen zur Verfügung stehenden Platz. Das hier ist aber kein Modell, das ist real, fast kitschig anmutend – kleine heile Welt.


Zunächst geht es auf einem Schotterweg flach weiter, dann steil nach oben auf schmalem Pfad bis zum geologischen Panoramaweg, der vom Hohen Kasten über Staubern bis zur Saxerlücke und von da aus runter zum Bollenwees führt. Als wir den Weg erreichen, öffnet sich der Blick hinunter ins Rheintal. Die Sonne zeigt, was sie im September noch zu leisten vermag. Sonnenschutz auftragen und Sonnenbrille aufziehen sind angesagt. Waren wir auf unserem bisherigen Weg nur sehr wenigen Wanderern begegnet, merkt man nun deutlich den Unterschied. Viele nutzen die Seilbahn für den Höhengewinn und laufen dann den Weg auf dem Grat entlang bis Stauberen und zurück. Heute offensichtlich auch eine Schulklasse. Junge Männer, voll im Saft, ziehen an uns vorbei. Ob die später alle mal Geologie studieren, glaube ich weniger, aber das ist wahrscheinlich auch nicht das Ziel der Exkursion.
Der Weg verläuft nicht immer genau auf dem Grat, sondern führt auch das eine oder andere Mal seitlich ein paar Höhenmeter bergab, um kurz darauf wieder anzusteigen, um den Grat erneut zu erreichen. Bergauf spüren wir jetzt so langsam schon das zusätzliche Gewicht, sind aber andererseits schon voll im Glück, was unsere neuen Rucksäcke anbelangt. Da hat sich in den letzten fünfunddreissig Jahren doch was getan, muss ich zugeben – voll toll!
Irgendwann taucht dann das Gasthaus Staubern in einiger Entfernung auf. Das ist glaube ich DAS typische Bild für Wanderungen im Alpstein, und spätestens jetzt ist mir auch klar warum. Ich spare mir das hier zu beschreiben, ein Bild sagt mehr als tausend Worte.

Wir kommen um die Mittagszeit an und obwohl auf dem Höhenweg relativ viel los ist, finden wir problemlos einen Platz auf der Terrasse und beschließen eine längere Pause zu machen und uns hier zu stärken. Weil wir auf dem Bollenwees übernachten, haben wir noch alle Zeit der Welt, bis dahin schaffen wir es auf alle Fälle. Die meisten Höhenmeter (im Anstieg) sind ohnehin schon geschafft. Wir entscheiden uns für Kuchen und Gerstensuppe.
Bald setzt sich eine ältere Lady zu uns an den Tisch. Großgemusterte Bluse, wie sie gefühlt alle älteren Frauen tragen – warum auch immer. Braune Schildmütze und original Tom Cruise Top Gun Sonnenbrille. Schon ein wenig schräg, aber he, wäre ja sonst langweilig. Irgendwann kommt dann noch ein jüngerer Mann dazu, der sich alsbald als ihr Sohn entpuppt. Wir kommen ins Gespräch, der Sohn erzählt von vergangenen Wanderungen (Heldentaten), typisch für Gespräche im Gebirge und erklärt uns, dass an der Felswand der Stauberenchanzel, die hinter uns empor ragt, ein Briefkasten in 80 Meter Höhe montiert ist. Erst denke ich, er macht sich einen Spaß mit uns, dann zoome ich mit der Kamera ran und kann eindeutig einen gelben Briefkasten erkennen. Wieder zu Hause interessiert mich das dann doch genauer und ich lese nach, was es damit auf sich hat.
Als im Jahr 2009 der Briefkasten an der Bahnstation Staubern aus Rentabilitätsgründen entfernt werden sollte, verhinderte der Wirt der Berggaststätte das, indem er den gelben Kasten weit oben an der Felswand montierte. In der Schweizer Pendlerzeitung „20 Minuten“ gibt es dazu einen kleinen Artikel, den ich euch weiter unten verlinke1.
Wir verabschieden uns vom Mutter/Sohn Duo und laufen weiter auf dem Weg in Richtung Saxerlücke. Ein schön angelegter schmaler, felsiger Weg. Von hier an sind wieder deutlich weniger Wanderer unterwegs, wir sehen von oben den Fählensee und an dessen Ostufer den Berggasthof Bollwenwees. Schön, wenn man das Ziel schon sehen und sich darauf freuen kann. Das haben wir auch schon ganz anders erlebt, da gäbe es einiges an Dramen zu erzählen, traumatische Erlebnisse die über Generationen weitergegeben werden. Ich sage nur Ostlerhütte in Pfronten – aber das ist eine andere Geschichte, die hier vielleicht auch einmal erzählt werden wird. Shout-outs gehen an dieser Stelle raus, an Erika und Herbert!

Wir wandern weiter, jetzt leicht bergab. Und dann sehe ich in einiger Entfernung vor uns ein Mann und eine Frau und traue meinen Augen nicht. Was haben die in die Gerstensuppe getan, die war doch lecker? Ist es der Sauerstoffmangel, wir befinden uns immerhin auf ca. 1700 Meter über Normal Null. Der Rucksack, vielleicht doch zu schwer, oder klemmt an irgendeiner Stelle die Blutzufuhr zum Gehirn ab? Ich schaue nochmal genauer hin, bleibe stehen, frage Margit, ob sie das auch so interpretiert. Und ja, einige hundert Meter vor uns läuft ein Brautpaar. Er im Anzug, das Sakko über dem Rucksack, sie im weißen Brautkleid, schulterfrei, volles Programm. O.k. also doch keine Halluzinationen, alles gut. Ulli, eine Freundin von uns, war vor ein paar Jahren mal auf einer Hochzeit auf dem Bollenwees eingeladen. Das fällt uns jetzt sofort wieder ein und wir tippen darauf, dass die zwei vor uns, das gleiche im Sinn haben. Ich male mir aus, dass es heute Abend im Gasthaus hoch her geht, wir werden spontan zur Feier eingeladen, Tanzen, Essen, Alkohol, dreihundert Gäste – mindestens – feiern wild und ausgelassen. Es kommt zu spontanen Verbrüderungen, völkerübergreifend: einheimische Appenzeller, deutsche Urlauber, Araber, Usbeken, Holländer mit Sonnenbrand. Der Wirt schenkt Selbstgebranntes aus, im Überschwang stürzen sich Gäste nackt zum Schwimmen in den Fählensee, einige davon tauchen nie wieder auf. Die Kühe tragen riesige Glocken um den Hals, wie sie es sonst nur zum Almabtrieb tun, von den umliegenden Bergen her, überschlägt sich das nach blecherne Echo. Alphornbläser blasen gegen drei Uhr Morgens den Hochzeitsmarsch, an Schlaf ist nicht zu denken. Was soll’s, dann starten wir unsere für morgen geplante Tour eben später.
Ganz so kommt es dann doch nicht.
Noch vor der Saxerlücke überholen wir die zwei, die von einem Fotografen und einer Übersetzerin begleitet werden. Das bereits vermählte Brautpaar kommt aus den USA, wir sehen sie später noch im Gastraum sitzen, Abends sind sie verschwunden. Von wegen wilde Feier.
Als wir schließlich an dem Bollenwees ankommen, ist die Terrasse mit Tagesausflüglern besetzt. Wir finden aber auch noch Platz, ziehen die Wanderschuhe aus, ich hänge meinen verschwitzten „Halfzip“ (so heißt das neuerdings) über das Geländer, um ihn in der Sonne zu trocknen. Wir bestellen Kaffe. So toll, wir sind für heute angekommen, haben Zeit ohne Ende, blicken auf den Fählensee und freuen uns über die schöne Tour, die wir gemacht haben.
Auf der Speisekarte gibt es eine Erklärung zur Geschichte des Bollenwees. Bereits um ca. 1400 existierte eine Wees (Wiese), die im Besitz eines Herrn Boll war. Daher die Namensgebung. Schon ab ca. 1800 wurden dann Gäste der dortigen Sennhütte mit Kaffee, Milch und Tee bewirtet. Seit 2004 haben die Wirtsleute Monika und Thomas das Sagen. Die Speisekarte weist uns auch darauf hin, das wir gerne DU statt SIE sagen können, bzw. explizit sollen. Sehr schön, genau mein Ding, hier fühle ich mich wohl! So zeigt uns später die Monika dann auch unser Zimmer. Ein sogenanntes Familienlager mit vier Matratzen, dass wir für die kommenden zwei Nächte für uns alleine haben können.
Abends essen wir in der Gaststube, ich entscheide mich für die auf dem Bollenwees legendären Rösti. Hier ist alles premium, man muss es so sagen.
In der Nacht ist es ruhig, die Hochzeitsfeier findet ja anscheinend woanders statt. Aus meiner Sicht ein großer Fehler des Hochzeitspaares, es hätte alles so schön sein können.
Ich stelle mir vor, länger zu Fuß mit dem Rucksack unterwegs zu sein und schlafe ein.
2. Tag
Für heute können wir ein Teil unserer Sachen im Lager des Gasthaus Bollenwees lassen, wir kommen ja heute Abend wieder. Verrückt wie schnell man sich an irgendetwas gewöhnt, ich bemerke sofort wie sich der Rucksack heute leichter anfühlt.
Die Tour wollen wir zunächst bis zum Mutschensattel machen, wenn alles passt, auch gerne weiter bis zur Zwinglipasshütte – mal schauen. Also steigen wir wieder auf zur Saxerlücke, von wo wir gestern Nachmittag gekommen waren. Die Saxerlücke ist ein Passübergang zwischen den Kantonen Appenzell Innerrhoden und St. Gallen. Oben angekommen öffnet sich wieder der Blick in das St. Galler Rheintal. Wir machen eine kleine Pause, genießen die Aussicht und sehen, wie sich uns eine Gruppe mit vielleicht zwanzig Kindern und drei Erwachsenen nähert. Als sie uns erreichen, erfahren wir, dass es sich um eine Schulklasse (7. Schuljahr) des Internats Salem am Bodensee handelt. Es dauert auch nicht lange, bis mir ein Schüler stolz berichtet, das sein Papa ein Boot hat – dachte ich mir schon. Ich freue mich über die Begegnung mit den Schülern. Alle scheinen gut drauf zu sein und sind voller Energie. Bei mir dauert dass glaube ich noch etwas, aber der Tag ist ja noch jung. Wie sich herausstellt, will die Gruppe heute in die gleiche Richtung laufen, wie wir. Also lassen wir sie erst einmal ziehen, man sieht sich dann vielleicht zwischendurch wieder.


Der Weg zum Mutschensattel führt über die Rosenalp, auf der linken Seite sind die Kreuzberge nicht zu übersehen. Irgendwann holen wir die Internatsschüler wieder ein, die gerade Pause machen. Wir sehen sie dann erst am Nachmittag kurz wieder, als wir auf dem Rückweg von der Zwinglipasshütte sind.
Heute Vormittag kommen uns vereinzelt immer mal wieder andere Wanderer entgegen. Alle sind auffallend gut gelaunt und immer für eine kurze Unterhaltung zu haben. In so einer Umgebung bei solch herrlichem Bergwetter wundert uns das auch nicht weiter. Wer hier und jetzt nicht zufrieden ist, der schafft es woanders auch nicht.
Vom Mutschensattel aus sehen wir ins nächste Tal. In einiger Entfernung ist die Bergkette mit den Churfirsten nicht zu übersehen. Die sehen wir bei entsprechender Fernsicht auch von zu Hause aus. Wir haben Zeit, fühlen uns wohl, die Sonne scheint, keine Frage, wir laufen weiter bis zur Zwinglipasshütte. Der Weg ist kurz noch ein Bergpfad, dann erreichen wir eine Hochebene, die uns beide total fasziniert. Ein riesiger Grasbuckel, von wo aus man einen tollen Rundblick hat, wie ich es sonst nur von Gipfeln kenne. In südwestlicher Richtung thronen imposant der Altmann und nach hinten versetzt der Säntis vor uns.

Irgendwo hier kommt uns ein Wanderer entgegen, der geschätzt siebzig Jahre oder älter ist. Wir plaudern, freuen uns alle drei, jetzt genau hier sein zu können. Wir erzählen ihm von unserer Tour, dass wir heute Abend wieder im Gasthaus Bollenwees übernachten, und fragen ihn noch nach dem Weg vom Zwinglipass zur Fählenalp, den wir später gehen wollen. Eine der vielen schönen Begegnungen, die wir heute Vormittag haben. Wie sich noch herausstellen sollte, nicht die letzte Begegnung mit Karl, der uns beim Verabschieden noch erzählt, dass er heute noch ins Tal absteigen möchte.
Vor der Zwinglipasshütte haben wir noch das Glück, auf zwei wenig scheue Murmeltiere zu treffen. Beide sichtlich gut genährt, es ist schließlich Herbst, der Winter naht. Auf der Hütte nehmen wir auf der Terrasse platz. Die Churfirsten präsentieren sich, wie bei einer Leistungsschau der schönsten Berge. Als ob sie das nötig hätten.
Die Zwinglipasshütte gehört zur Sektion Toggenburg des Schweizer Alpenclubs (SAC). Die Hütte hat keinen Pächter, sondern wird von den Vereinsmitgliedern ehrenamtlich bewartet. Ende Juni findet alljährlich die sogenannte „Hötteträgete“ statt, bei der ca. 130 Mitglieder 6-7 Tonnen Material zur Hütte tragen. Daher ist alles auf das Nötigste beschränkt, wir vermissen nichts, fühlen uns sehr wohl hier.
Der Nusszopf den wir essen, schmeckt hervorragend, wir bestellen eine zweite Runde.
Es ist angenehm ruhig, Ende September ist hier nicht mehr viel los. Wir wissen vom Sommer, dass im Alpstein sonst immer sehr viele Wanderer unterwegs sind. Manchmal auch zu viele, was verständlich ist, aber sich dann für uns deutlich anders anfühlt.
Entspannt und gestärkt treten wir den Rückweg zum Bollenwees an. Ein Stück auf gleichem Weg zurück bis zum Zwinglipass, von da an über Häderen zur Fählenalp und von dort am Nordufer des Fählensees zurück zur Bollenwees. Der Weg direkt nach dem Zwinglipass ist etwas verblockt, mit teilweise größeren Stufen, aber grundsätzlich sehr gut zu gehen.


Zurück auf der Bollenwees überlegen wir, ob wir nicht noch eine weitere Übernachtung auf der Meglisalp dranhängen sollen. Die Wetteraussichten sind weiterhin sehr gut und wir haben noch die ganze Woche Urlaub.
Der erste Anruf auf der Meglisalp bricht mitten im Gespräch ab, der Empfang ist zu schlecht. Dann suche und finde ich vor dem Gasthaus eine Stelle im Gelände, an der ich stabileren Handyempfang habe. Wir haben Glück, es gibt noch freie Schlafplätze. Ein Zweibettzimmer wäre verfügbar, würde aber unsere Reisekasse sprengen. Wir entscheiden uns für das Matratzenlager und freuen uns schon jetzt auf eine weitere Übernachtung in den Bergen.
3. Tag
Als wir heute früh die Terrasse vor dem Gasthaus betreten, hören wir sofort einen Hubschrauber über uns, in geringer Flughöhe. Wie es aussieht bringt er in Etappen Brennholz vom Bollenwees zur Fählenalp, am Westufer des vor uns liegenden Sees.
Wenn wir zu Hause Brennholz für den Kachelofen geliefert bekommen, dann kommt ein Pickup mit Anhänger, der das Holz in unsere Garageneinfahrt abkippt. Die Pauschale für die Anlieferung lag beim letzten mal bei zweiundvierzig Euro, ich möchte nicht wissen, was die Aktion mit dem Hubschrauber kostet.
Vorhin beim Frühstück im Gastraum, haben uns andere Gäste auf eine Herde Gemsen aufmerksam gemacht, die oben am Berg zu sehen waren. Tatsächlich haben wir heute das Glück ein weiteres mal Gemsen beobachten zu können, dann aber aus deutlich geringerer Entfernung.
Wir wandern los in Richtung Norden. Schauen noch ein letztes Mal zurück zum Gasthaus und zum Fählensee. Dann geht es zunächst bergab, bis zu einem Wegweiser im Wald, an dem wir links, in Richtung Widderalp abzweigen.
Der Weg steigt jetzt wieder an, bis wir nach kurzer Zeit schon die Alp Widderalp oberhalb des Weges sehen. An einem steilen Geröllhang im sich öffnenden Seitental, sehen wir zuerst eine Gemse, kurz darauf, eine ganze Herde mit acht oder neun Tieren. Zwischen dem Geröll ziehen sich Grasfelder den Hang hoch, die den Tieren besonders gut zu schmecken scheinen. Sie bemerken uns, stufen uns aber offensichtlich als ungefährlich ein und grasen weiter.


Auf der Alp angekommen – setzten wir uns auf eine Holzbank vor der Hütte und machen eine kleine Pause. Ende September ist hier kein Weidevieh mehr unterwegs, die Alphütte ist winterfest verschlossen.
Dann sehen wir einen Wanderer den gleichen Weg hinaufsteigen, den auch wir vor ein paar Minuten gegangen sind. Als er sich uns nähert, erkennen wir Karl wieder, den Wanderer den wir am Vortag in der Nähe vom Zwinglipass getroffen, und mit dem wir uns so gut unterhalten haben. Hatte er nicht gesagt, dass er ins Tal absteigen wollte? Wir kommen sofort wieder ins Gespräch. Karl erzählt uns, dass er nach unserer gestrigen Begegnung beschlossen hat, eine Übernachtung auf dem Gasthaus Bollenwees dranzuhängen. Unsere Begeisterung für das großartige Bergwetter und die Ruhe, im Vergleich zum Sommer, haben ihn zum Nachdenken gebracht und so kam seine Entscheidung zustande.
Interessanterweise sind wir uns dann letzten Abend und heute Früh nicht im Gasthaus begegnet. Wie auch immer – jetzt sitzen wir gemeinsam vor der Alphütte, machen Pause und beobachten die Gemsen. Karl hat nur einen kleinen Rucksack dabei, dort aber ein Fernglas drin, das wir jetzt reihum gehen lassen, um die Gemsen besser sehen zu können.
Dann erzählen wir Karl von unseren heutigen Etappenziel, der Meglisalp und dass wir überlegen, ob wir noch die Rotsteinpasshütte „mitnehmen“. Wir verabschieden uns und sind uns ziemlich sicher, dass wir uns im Laufe des Tages nochmal begegnen werden.
Laut Wegweiser sind es noch vierzig Minuten und gut zweihundert Höhenmeter bis zum Widderalpsattel, eine Stunde dreißig bis zur Meglisalp und drei Stunden bis zur Rotsteinpasshütte. Auch auf dem Anstieg zum Sattel begegnen uns mehrere Wanderer, die alle freundlich grüßen und sich gerne kurz mit uns unterhalten. Vielleicht mischen die auf den Hütten irgend ein Kraut in den Tee, der die Menschen so offen und freundlich macht. Das Kraut könnte generell dem Trinkwasser beigemischt werden. Es gibt für meinen Geschmack zu viele latent schlecht gelaunte Menschen. Vor allem solche, mit denen es das Leben eigentlich gut meint und die aus meiner Sicht nicht wirklich einen Grund dafür hätten.
Aber so einfach ist es nicht.
In Wahrheit besteht das „Kraut“ sowieso aus den Zutaten frische Luft, Bewegung und schöne Landschaft. Klare Empfehlung meinerseits, das macht definitiv glücklich!
Vom Widderalpsattel geht es zunächst über Geröllfelder leicht abwärts. Direkt vor uns der Säntis. Dann verläuft der Weg deutlich steiler im Zickzack abwärts in Richtung Meglisalp, die wir von hier aus das erste mal von oben sehen können. Auf der Komoot-Karte ist hier „Herrliche Aussicht“ vermerkt – kann ich bestätigen!

Weiter unten erreichen wir schließlich die Weggabelung: rechts nicht mehr weit hinab zur Meglisalp und links der Anstieg zur Rotsteinpasshütte.
Wir nehmen unsere Rucksäcke von den Schultern, suchen uns einen bequemen Stein zum hinsetzen und machen Pause. Vielleicht fällt euch auf, dass das mit den Pausen nicht zu kurz kommt. Ja, und das ist auch gut so! Wir wollen nicht möglichst schnell irgend ein Programm abspulen oder sinnlose Rekorde aufstellen. Ganz im Gegenteil, das hier und jetzt hat Vorrang.
Hier treffen wir auch Karl wieder. Er war ja noch auf der Widderalp ein wenig sitzen geblieben und ist nun wieder gleich weit wie wir.
Wir erzählen ihm, dass wir uns entschieden haben noch auf die Rotsteinpasshütte zu laufen, dort Pause (da war sie wieder) zu machen und dann zur Meglisalp abzusteigen, auf der wir ja ein Lager gebucht haben. Und wir merken sofort, wie unser „Freund“ auch anfängt mit dem Gedanken zu spielen, den gleichen Abstecher zu machen. Wir verabschieden uns wieder, erneut mit dem Gedanken, dass wir uns vielleicht doch nochmal wiedersehen.
Dann geht es deutlich spürbar aufwärts. Die Schwerkraft zieht an uns, aber so wollten wir es ja schließlich. Irgendwann haben wir es dann geschafft und kommen auf der Rotsteinpasshütte an. Sehr, sehr schön da oben. Hinter der Hütte ist der Säntis zum Greifen nah. Von hier aus, kann man über den Lisengrat hinüberlaufen. Die Tour hat Margit vor zig Jahren mal an einem 3. Oktober zusammen mit ihrem Vater gemacht. Seither war sie nicht mehr hier oben und ist deshalb jetzt komplett im Glück! Bei mir ist es auch eine gefühlte Ewigkeit her, dass ich auf dem Rotsteinpass war. Auf einer Wanderung, die ursprünglich nur von Wasserauen bis zur Meglisalp und zurück führen sollte, hatte mich damals der Ehrgeiz gepackt und ich bin noch bis hierher gelaufen und dann wieder zurück. Ich erinnere mich noch gut, wie ich abends dann komplett im Eimer war. Aber geil war’s schon – ab und zu sollte man unvernünftig sein!

Wir setzten uns auf der Terrasse an einen Tisch und schauen in der Speisekarte, was es zu Essen gibt. Da kommt Karl auf uns zu, der Kerl ist nicht zu bremsen! Wir freuen uns sehr, und ich frage ihn, ob er Lust hat mit uns zusammen gemütlich etwas zu essen.
Klar, keine Frage.
Und schon geht’s los. Er erzählt uns, was er in seinem Leben schon alles gemacht hat. Was seine Enkel so machen. Wir reden über das Leben, die Politik und die ganz großen Themen, was wichtig ist im Leben, etc. Wir merken alle schnell, dass wir auf einer Wellenlänge sind. Eine Mittagspause, die ich so schnell nicht vergessen werde. Nach dem Essen dann, verabschieden wir uns das dritte Mal heute – wir bleiben noch ein wenig hier oben und genießen die Aussicht, Karl muss langsam los. Im Gegensatz zu uns, muss er heute noch bis ganz runter ins Tal. Fetter Respekt, wenn ich das in seinem Alter auch noch hinbekomme, dann kann ich mehr als zufrieden sein.
Später am Nachmittag checken wir an der Meglisalp ein. Wir bekommen ein schönes Lager, unterm Dach eines Nebengebäudes zugeteilt. Hier ist Platz für 14 Personen. Es sind aber nicht alle Schlafplätze belegt. Alles easy mit viel Platz und Abstand und super gemütlichem Bettzeug. Bis es Abendessen gibt, sitze ich noch eine Weile hinter der Hütte und schaue in den Sonnenuntergang in Richtung Rotsteinpass, wo wir heute Mittag waren.


Das Abendessen ist der Knaller, wirklich. Wenn ihr auf der Meglisalp seid, bestellt euch etwas, auf das ihr Appetit habt. Es ist jeden Franken wert.
Schon auf dem Bollenwees wurden wir per Tischkarte mit anderen Gästen zusammen an einem Tisch platziert. Hier ist es wieder so. Auf diese Art und Weise gibt es keinen Stress bei der Platzsuche und niemand bleibt alleine, ich finde das eine richtig gute Lösung. Wir lernen heute Abend also zwei Schweizerinnen vom SAC Lenzerheide kennen. Die sind auch nicht mehr die allerjüngsten, lassen sich aber augenscheinlich nicht davon abhalten die Berge hochzusteigen. Gut so!
Zwei Tische weiter sitzen drei junge Männer. Unverkennbar aus den USA, das hört man sofort. Deutsch oder gar Schweizer Dialekt verstehen sie nicht, das bemerke ich, als sie sich mit der Bedienung unterhalten, die im übrigen sehr gut Englisch spricht. Ich erwähne das, weil ich das später, an anderer Stelle, ziemlich lustig fand. Als wir nämlich wie fast alle Anderen auch früh ins Bett bzw. Matratzenlager gehen, sind die drei jungen Amerikaner die letzten die sich hinlegen. Einer hat dann noch länger eine Taschenlampe an und scheint noch etwas zu lesen, während alle Anderen schlafen.
Ich schlafe nicht gleich ein, döse noch ein wenig vor mich hin, vielleicht auch wegen der leuchtenden Taschenlampe, was mich aber nicht stört. Dann aus dem Off, von einem anderen Wanderer, der vielleicht zwei Meter neben uns liegt, folgender Satz in das Halbdunkel hinein, hinüber zum Amerikaner mit der Leselampe: „Wann wottet ihr’s Licht lösche?“
Ich muss mich beherrschen, dass ich nicht laut loslache. So freundlich aber gleichzeitig sehr bestimmt, kann man nur im Dialekt etwas ausdrücken. Das Thema ist ja nur: selbst wer der deutschen Sprache mächtig ist, hätte wahrscheinlich Mühe den Satz zu verstehen. Der junge Mann aus den USA, hat garantiert nichts verstanden! Allerdings, und das überrascht mich dann erst recht, hat die Tonlage des Satzes wohl genügend Information enthalten, dass nur einen Augenblick später das Licht ausgeht.
Ich glaube, ich bin an dem Abend mit einem breiten Grinsen eingeschlafen.
4. Tag
Die Nacht wahr ruhig, aber wie zu erwarten, frühmorgens schon zu Ende.
Einige verlassen das Lager schon zeitig, begleitet von dem üblichen „rumgekruschtel“ am Rucksack. Uns stört das nicht, nach den letzten drei schönen Tagen in den Bergen sind wir tiefenentspannt. Die Wäsche am Gemeinschafts-Waschtroog mit kaltem Wasser ist schnell erledigt. Vor dem Nebengebäude erwartet uns der freundliche Hüttenhund, der erst einmal geknuddelt werden möchte.
Nach dem Frühstück entscheiden wir uns für den Rückweg „obenrum“, dass heißt über den Schrennenweg nach Wasserauen. Immer wieder sieht man steil hinunter auf den Seealpsee. In umgekehrter Richtung kommen uns heute viele Wanderer entgegen. Heute ist Freitag, die Wetteraussichten sind sehr gut und am Montag ist auch noch Feiertag in Deutschland. Da ist die nächsten drei Tage bestimmt nochmal richtig viel los.

Südlich des Seealpsees wandern wir an der Alm Gross Hütten vorbei. Etwas oberhalb waren wir Mitte Juli in ein heftiges Berggewitter geraten und froh, zusammen mit weiteren Bergsteigern, in der Almhütte Schutz zu finden. Der Ziegenkäse, den wir bei der Gelegenheit dort gekauft hatten, war vom Allerfeinsten.
Als wir Wasserauen erreichen, ist auf dem Parkplatz vor der Talstation der Ebenalp-Bahn ein richtiger Trubel. Obwohl wir nur ein paar Tage in den Bergen waren, merke ich, wie ich so viele Menschen auf einem Haufen nicht mehr gewohnt bin. Es fühlt sich an, als ob ich nach einer Expedition wieder in der Zivilisation angekommen bin. Wie schnell sich die Perspektive verändern kann, wenn sich die Randbedingungen ändern!

Dann wandern wir durch Almwiesen bis kurz vor Weissbad, dort zweigt ein Weg ab, der uns auf dem Chlustobelweg zurück nach Brülisau bringt. Einerseits genieße ich die letzten Meter, freue mich, dass wir so eine schöne Tour machen konnten. Andererseits mischt sich ein wenig Wehmut in meine Gedanken, dass es jetzt schon wieder vorbei ist.
Als ich in der folgenden Woche wieder zur Arbeit gehe und nicht weiß, wie ich meinen Kollegen erklären kann, wie ich mich fühle, sage ich: „Ich glaube ich bin überurlaubt!“
